Lena

Das Interview Februar 2024

Lena - 28 Jahre


Es war beinahe ein Jahr vergangen, seit ich das Leben meiner vier Protagonisten das erste mal persönlich betrat. Nun wurde es Zeit für ein weiteres Interview. Diesmal leider nicht in Florida, sondern bei Rebecca und Lena zu Hause, im winterlichen Deutschland. 

Eine gemütliche Wohnküche erwartete mich, wo ich mich als erstes mit meinem Tablet gegenüber Lena an den Tisch setzte, nachdem ich sie mit einer Umarmung begrüßt hatte. Eine Flasche Wasser und Kekse standen auf dem Tisch und sie schenkte mir ein. 

Lena wirkte etwas müde, weswegen ich mir nicht sicher war, ob meine erste Frage zu ihrer Stimmung passte. 

»Was löst bei dir immer wieder Begeisterung aus?« 

Sofort breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus und sie blickte aus dem Fenster. »Ich liebe es, wenn es schneit. Mich in einen Hund zu verwandeln und durch den Schnee zu toben war schon als Kind eines der Dinge, die ich am liebsten tat. Einer der wenigen Momente, in der meine Sorgen einfach nicht existierten.« 

»Das klingt wundervoll. Verwandelt könnte es mir auch gefallen.« 

Sie sah mich wieder an und nickte mir freundlich, aber auch resigniert zu. 

»Für was setzt du dich ein? Für welche Ideale machst du dich stark?« 

»Ideale?» Lena wirkte überrascht. »Ich idealisiere nichts. Aber ich würde Menschen, die bedroht werden, mit meinem Leben verteidigen. Ob ich sie kenne oder nicht.« 

»Das ist sehr mutig von einer Frau mit deiner Statur.« 

»Zum Glück vergesse ich meine Körpergröße in solchen Momenten.« Sie lachte und die Müdigkeit in ihren Augen verschwand für diesen Moment. 

»Was bringt dich zum Lachen?« 

»So ziemlich alles? Ich bin wirklich leicht zu amüsieren. Je schlechter der Witz, umso besser.« Das war nicht schwer zu glauben. Auch jetzt strahlte sie Lebensfreude aus, obwohl es ihr offensichtlich psychisch nicht gut ging. 

»Wie siehst du dich selbst?« 

Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, verschwand ihr Lächeln. »Meistens halte ich mich für eine Belastung für andere.« 

»Oh je. Gibt es dafür einen Grund?« 

Ihr Blick haftete am Tisch, als würde sich dort etwas interessantes befinden. »Immer wieder treffe ich die falschen Entscheidungen und brauche Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen.« 

»Das tut mir leid.« Ich wollte das Thema wechseln, war mir aber nicht sicher, ob die kommende Frage wirklich besser wäre. »Welchen Rat würdest du deinem jüngeren Ich geben?« 

»Vertraue niemals einem Mann.« Sie sah wieder zu mir und lachte gequält. »Als ob ich jemals darauf hören würde.« 

»Gab es denn überhaupt schon Ratschläge, auf die du gehört hast und welcher war der Beste?« 

»In der Tat.» Lena presste die Worte zischend durch ihre Zähne. Offensichtlich nicht glücklich drüber, von wem sie den Ratschlag bekommen hatte. »Ich sollte Rebecca nicht aufgeben und ER hatte recht.« Sie setzte sich aufrechter hin und seufzte. 

»Mit welcher Person würdest du gern dein Leben tauschen?« 

Sie lehnte sich im Stuhl zurück und dachte nach. »Ich weiß es nicht. Aber ich glaub ich würde gern wissen, wie es sich anfühlt, in einer glücklichen Familie aufgewachsen zu sein.« 

Obwohl sie mit vollkommen neutraler Stimme gesprochen hatte, konnte ich ihren Kummer in jedem einzelnen Wort spüren. 

»Was war das gemeinste, was du je getan hast?« 

»Zählt, dass ich jemanden in den Mund gekackt habe?« 

Ich musste echt blöd aus der Wäsche schauen, denn sie grinste sehr breit und sprach weiter: 

»Ich hatte mich dabei in eine Taube verwandelt.« Ihr Lachen klang hell und heiter. »Er war echt ein mieses Schwein und hatte es wirklich verdient.« 

Die Vorstellung war zu köstlich und ich musste ebenfalls lachen. »Das glaub ich dir sofort. Wer würde nicht ungeliebte Menschen als Taube ankacken wollen?« Mir kamen beinahe die Tränen, so sehr amüsierte mich die Vorstellung. Nachdem ich durchgeatmet hatte, stellte ich ihr die nächste Frage: »Was würde dein jüngeres ich jetzt in deinem Körper machen?« 

»Über diese verfluchten Rückenschmerzen jammern.« 

Wer hatte sich wieder diese Fragen ausgedacht? Ich seufzte. »Hattest du eine glückliche Kindheit?« 

Lena sah mich an, als hätte ich einen stinkenden, toten Fisch in der Hand. »Nein.« Das war nüchtern, kurz und präzise. 

»Themenwechsel. Würdest du lieber in die Vergangenheit, oder in die Zukunft reisen?« 

Sie fuhr mit ihrem Finger über die Holzmaserung des Tisches. »Klüger wäre es wohl in die Vergangenheit zurück zu kehren und diese USA Reise nie gemacht zu haben. Obwohl ich dann auch nie erfahren hätte, dass ich mit meinen Fähigkeiten nicht allein bin.« 

Mist, ich sollte es lassen, sie zu Interviewen. Es fühlte sich auch dieses Jahr an, als würde ich sie retraumatisieren. »Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?« 

»Ich halte es nicht für ausgeschlossen. Manchmal hab ich das Gefühl, als hätte ich schon andere Leben gelebt.« 

»Was bedeutet Liebe für dich?« 

Lena atmete tief ein, aber es war deutlich zu hören, dass sie mit den Tränen kämpfte. »Liebe bedeutet immer Schmerz.« Ihre Stimme zitterte und sie drehte sich weg. 

Ich hasste diesen Fragenkatalog immer mehr. Aber ich wollte das Interview auch nicht abbrechen. »Ist es ok, wenn ich mit den Fragen fortfahre?« 

Sie nickte, sah mich aber nicht an. 

»Wie war dein erster Kuss?« 

Erst dachte ich, ihr Blick würde mich an Ort und stelle töten, aber dann gluckste sie leicht und unterdrückte wieder ein Lachen. »Das war echt eklig feucht und ich dachte, der Typ beißt mir die Unterlippe ab.« 

Lenas Stimmungsschwankungen waren extrem, aber es war mir lieber, wenn sie lachte. »Was macht für dich jemanden attraktiv?« 

»Das kann ich schwer in Worte fassen. Wahrscheinlich Intelligenz? Ich unterhalte mich gern vielseitig und mag es intellektuell gefordert zu werden und neues zu lernen. Das Aussehen war immer schon zweitrangig. Mich interessiert ja nicht mal das Geschlecht.« 

»Dann erübrigt sich ja meine nächste Frage, welche Eigenschaft du besonders anziehend findest.« 

Lena grinste wieder. »Sieht so aus.« 

»Und wie zeigst du, dass dir jemand gefällt?« 

»Oh je.« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht. »Ich bin wirklich obsessiv und anhänglich. Eigentlich muss ich die ganze Zeit dagegen ankämpfen, diesen Menschen nicht unentwegt zu belästigen.« 

»Das klingt anstrengend.« 

»Das ist es.« Sie linste verlegen durch ihre Finger. 

»Wenn du eine Sache an dir ändern könntest, was wäre das?« 

»Ich wäre sehr gern etwas größer.« 

»Wie stehst du zu Wettbewerben?« 

»Ich meide sie lieber. Ich bin oft geschickter, löse Probleme schneller oder bin sportlicher als andere. Da begegne ich oft Neid, wofür ich dann in irgendeiner Form bezahlen muss.« 

»Verstehe.« Ich nahm einen Schluck Wasser. »Wann bildest du dir eine Meinung über jemanden? Sofort oder Später?« 

»Sofort und später. Eigentlich ändert es sich oft. Erst bin ich skeptisch, dann Hype ich die Person und wenn mich diese enttäuscht, verzeihe ich trotzdem viel zu leicht.« 

»Damit bist du nicht allein. Ich bin da sehr ähnlich gestrickt.« 

»Ich komme mir manchmal so naiv vor.« 

»Oh ja, ich mir auch. Aber eigentlich hoffen wir nur, dass andere genauso gute Absichten haben, wie wir. Nur haben wir beim Kennenlernen trotzdem Angst durch die vergangenen, negativen Erfahrungen.« 

»Ja, genau das! Du hast es auf den Punkt gebracht.« 

»Hast du ein Geheimnis, von dem niemand weiß?« 

»Wenn ich es dir verrate, ist es kein Geheimnis mehr.« 

»Ach komm, es muss spannend bleiben.« 

»Ich bin schwanger.« 

»Wow.« Das war unpassend, aber ich hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Außerdem hatte ich nichts gesehen, aber sie hatte auch einen lockeren Hoodie an. »Und das weiß niemand?« 

»Naja schon, aber nicht viele.« 

Ich überlegte nach dem Vater zu fragen, aber ahnte irgendwie, dass da nur zwei Männer in Frage kommen konnten und diese Büchse der Pandora wollte ich nicht öffnen. »Welche Angewohnheit würdest du gern ablegen?« 

»Meine Intuition zu ignorieren. Aber ich stelle meine Gefühle immer in Frage und bin dann verwirrt, was Bauchgefühl oder nur meine intrusiven Gedanken sind.« 

»Was kannst du besser, als alle anderen?« 

»Ich werde in allem unterschätzt. Dass kann aber auch sehr nützlich sein. Deswegen würde ich sagen, das naive Kind spielen kann kaum jemand besser, als ich. Andererseits werde ich leider auch sonst selten ernst genommen.« 

»Welches Geräusch kannst du nicht ausstehen?« 

»Ehrlich gesagt komme ich mit Störgeräuschen aller Art ganz gut klar. Vollkommene Stille macht mich nervös.« 

»Worauf bist du in anderen Kulturen neidisch?« 

»Boah, Ich würde es total feiern, wenn es hier auch sowas wie Siesta gäbe. Einfach nachmittags hinlegen und ein ausgedehntes Nickerchen machen, ohne dafür blöd angeschaut zu werden.« Sie lächelte wieder sehr breit. 

Sie entlockte mir einen Lacher mit dieser Antwort. »Das passt gut zur nächsten Frage, ob du eher Tag oder Nacht bevorzugst. Aber das erklärt sich mit der Siesta fast von selbst.« 

»Ja, ich bin gern bis spät in der Nacht wach. Irgendwie bin ich dann am produktivsten.« 

»Magst du es lieber warm, oder kalt?« 

»Ich mag es doch lieber warm. Wenn ich mich in der Kälte wandle, friere ich in meiner menschlichen Gestalt schnell, was doch unangenehm ist. Dieses Problem erübrigt sich bei Wärme.« 

»Hättest du lieber mehr Zeit, oder mehr Geld?« 

»Klingt blöd, aber ich glaube Geld würde einige meiner Sorgen nehmen. Ich fühle mich oft schuldig, weil die meiste Verantwortung für das Finanzielle bei Rebecca liegt.« 

»Wenn du einen Wunsch frei hättest, welcher wäre es?« 

Lena senkte ihren Blick und seufzte. »Ich möchte nicht mehr in Angst leben müssen.« 

»Wovor hast du denn Angst?« 

»Oh, da gibt es einiges. Vor meinen Erinnerungen, Albträumen und …« Ihre Stimme brach weg. »Ich habe Angst vor ihm.« Tränen zitterten in ihren Augen, als sie mich wieder ansah. 

Ich wünschte, ich hätte sie irgendwie trösten oder beruhigen können. Aber hätte sie mir geglaubt? Konnte ich mir überhaupt sicher sein? »Das tut mir leid.« Ich hätte das Interview gern anders abgeschlossen. »Ich danke dir für deine Zeit und wünsche dir alles Gute.« 

Sie nickte, verabschiedete sich kurz und verließ die Küche.